10. Juli 2015

Der Tag der Skuas. Wer bei Hitchcocks „Die Vögel“ geschwächelt hat, der wäre heute besser nicht mit mir unterwegs gewesen.
Nach dem Frühstück bin ich nach Hermaness gefahren, dem Vogelschutzgebiet an der nordwestlichen Spitze von Unst. Hier gibt es Seevogelkolonien und Sterntaucher... aber meine persönlichen Stars heute waren die Großen Raubmöwen.
Das Wetter heute vormittag war super, nur leicht bewölkt und fast kein Wind, was hier auf den Shetlands schon ungewöhnlich genug ist. Am Parkplatz zum Eingang des Vogelschutzgebietes in Hermaness habe ich meine Sachen zusammen gepackt, die ich für die Wanderung brauchte. Die Kameras, das Fernglas, ne Wasserflasche, de Mütz, ne Plastikhülle für die Sony, falls es regnen würde... nen Schirm? Hmmmmm... bei dem Wind hier hilft einem ein Schirm nicht wirklich, wenn's regnet. Aber ich wusste, dass ich mich auf Skua-Territorium begeben würde, und so hab ich den Schirm mal mit eingepackt. Nicht umsonst, möchte ich an dieser Stelle schon mal verraten.
Nach rund zwanzig Minuten stand ich oben auf den Klippen, wo Unst in den Atlantik stürzt. Der Weg bis hierhin war einfach gewesen. Zum großen Teil befestigt beziehungsweise auf Stegen.
Der Blick runter auf den fast unbewegten Ozean war schon ungewöhnlich. Und darüber kreisten Basstölpel, Möwen, Eissturmvögel und Skuas. Schon auf dem Weg hatte ich etliche Skuas im Heidekraut sitzen gesehen, aber die waren alle schön auf Distanz oder zogen hoch am Himmel ihre Kreise. Alles easy. Ich fragte mich schon, warum am Eingang zum Schutzgebiet der Hinweis stand, dass die Skuas Sturzangriffe flögen, aber nur sehr selten wirklich zuschlagen. Oben auf den Klippen habe ich ein bisschen die Vögel beobachtet und dann überlegt, ob ich es dabei belassen und zum Auto zurückgehen sollte, oder ob ich den langen Rundweg nehmen sollte. Ich habe mich dann für die lange Variante entschieden und ein kleines Abenteuer erlebt.
Der weitere Weg führt zuerst oben auf den Klippen entlang, bergauf und bergab und ist durch Holzpfähle mit einem grünen Viereck markiert. Über eine Stunde war ich schon unterwegs gewesen und hatte mich an den Anblick der Skuas, die überall rum sitzen und standen und in der Luft gemütlich ihre Bahnen zogen gewöhnt. Nichts schien drauf hinzudeuten, dass sich das ändern würde. Und dann sah ich wie so ein großer brauner Vogel am Hang über mir startet. Die geschätzten 50m Entfernung hatte er in drei Sekunden hinter sich, und ich konnte mich grade noch ducken. Von Sturzangriff war da nichts zu sehen, dass war eine Frontalattacke im Tiefflug und nach meinem Gefühl fehlten da nur ein paar Zentimeter zwischen meiner Schädeldecke oder vielmehr der Mütz und dem Vogel. Ich bin bisher erst ein einziges Mal in meinem Leben von einem Tier in freier Wildbahn so entschlossen und zielstrebig angegriffen worden. Das war meine denkwürdige Begegnung mit dem Elefanten im Krüger-Nationalpark 1992. Jetzt ist eine Skua kein Elefant. Umso mehr habe ich Respekt vor der Kompromisslosigkeit, mit der sich ein Vogel von der Größe eines Mäusebussards, also eine Flügelspannweite von um die 130cm und einem Gewicht von ungefähr 1,3kg, mit mir (Spannweite 192cm, Gewicht geheim) anlegen wollte.
Der Angriff war in Sekunden vorbei, die Skua war wieder zu ihrem Platz zurückgekehrt, und ich war... eingeschüchtert. Auch wenn eine Skua 'nur' so groß ist wie ein Bussard, unter den aktuellen Umständen wirkte der Vogel so groß wie eine F-15. Ich habe kurz mit mir beraten, wie's jetzt weitergehen soll, und dann fiel mir der Schirm ein. Ist zwar nur ein Knirps, aber nicht ausgespannt, aber ausgezogen sollte der wohl zur Verteidigung reichen. Ich habe als meinen Weg fortgesetzt und schon nach wenigen Metern war der braune Kampfflieger wieder auf dem Weg zu mir. Ducken und den Schirm hochhalten. Die Skua schoss wieder knapp über mich hinweg, zog eine elegante Kurve und landete wieder oben am Hang. Noch zwei Mal wiederholte sich das Spiel, bis die Raubmöwe beschlossen hatte, dass ich jetzt weit genug weg war und keine Bedrohung mehr darstellte. Vor dem Hintergrund dieser Erlebnisse traten natürlich die Basstölpel-Kolonien und die tolle Landschaft in den Hintergrund.
Nicht alle Skuas waren aber so giftig drauf. Viele ließen sich problemlos beobachten und fotografieren – wie auch das Bild des Tages zeigt. Aber nach meinem ersten Nahkampferlebnis war ich gewarnt und entsprechend vorsichtig. Der Schirm war von da an griffbereit in der Beintasche meiner Hose.
Tolle Beobachtungsmöglichkeiten für Skuas ergaben sich auf meiner Wanderung. Und nicht nur für rumsitzende oder rumstehende Vögel. Ich konnte das Droh- und Imponierverhalten der Skuas untereinander beobachten. Ich habe Skua-Küken gesehen – kleine flauschige graubraune Knäuel, die durch das Heidekraut talpsten (und für gute Fotos zu weit weg und zu gut beschützt waren). Und ich habe erlebt, was für fantastische Flieger Skuas sind.
Rund dreieinhalb Stunden hat meine Rundwanderung gedauert. Und ich habe noch zwei ernstgemeinte Attacken abbekommen, und einige eher halbherzige, wo ich wohl noch nicht weit genug in die Unbehaglichkeitszone der Skuas vorgedrungen war.
Um kurz nach zwei bin ich in Hermaness wieder vom Parkplatz gefahren. Grade als die ersten Regentropfen fielen. In Saxa Vord, einem ehemaligen RAF-Horchposten aus dem Kalten Krieg, bin ich in einem Café eingekehrt und habe nen Tee getrunken und ein Scone gegessen. Dann ging's zurück zum Quartier und ich habe mir einen ruhigen Nachmittag gemacht. Muss auch mal sein, und war auch in Anbetracht der Wetterlage angemessen.

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