9. Juli 2022... nachts...

Es gibt für alles ein erstes Mal. Heute gibt es zwei Logbücher, denn die Ereignisse der vergangenen Nacht haben ein eigenes Logbuch verdient.
Ihr erinnert Euch sicher an das Ende des gestrigen Logbuchs. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich nicht die geringste Ahnung, welche Abenteuer mich in der Nacht erwarten würden.
Mein Flieger traf pünktlich in Hammerfest ein, und ich war auf einen kurzen knackigen Flug in der Mitternachtshelligkeit vorbereitet. Lustigerweise war es die gleiche Maschine wie auf dem Flug von Tromsø nach Hammerfest, die DHC-8-100 mit dem Kennzeichen LN-WII. Die DHC-8 wird umgangssprachlich auch Dash 8 genannt.
Ich hab den gleichen Sitzplatz bekommen wie am Tag vorher. Der Flieger war nur ungefähr halb voll und außer mir kamen nur drei andere Leute (davon ein Baby) dazu. Nachdem ich mich gesetzt hatte, habe ich wie gewohnt der Flugbegleiterin meinen Fragebogen in die Hand gedrückt und sie sagte: "Kein Problem."
Eine Minute später kam sie zu mir und meinte: "Die Crew hat gefragt ob Du vorne mitfliegen willst." So habe ich Magnus und Oskar kennen gelernt. Magnus, der Captain, stammt aus Småland, allen Deutschen bekannt als Heimat von Michel aus Lönneberga. Oskar, der Erste Offizier, ist aus Stockholm. Zwei Schweden, die in nem kanadischen Flugzeug im hohen Norden Norwegens unterwegs sind, um Touristen aus aller Herren Länder durch die Gegend zu fliegen… und ein deutscher Fliegerfreak auf dem Jumpseat (so nennt man den Notsitz für Beobachter im Cockpit eines Flugzeugs). Durch meine Erlebnisse vom Vorabend kannte ich jetzt schon die notwendigen Handgriffe. Sicherheitsgurte, Notausstieg und vor allem die Handhabung der Kopfhörer. Im Cockpit der Dash 8-100 unterhält man sich nämlich während des Fluges über Kopfhörer und Mikro. Es ist nämlich ziemlich laut in diesem Flieger. Während der Vorbesprechung erklärte mir Oskar, der für den Flug das Steuer haben würde, dass Honningsvåg einer der schwierigsten Flugplätze in Norwegen ist (wusste ich bis dahin nicht) und welches Anflugverfahren er anwenden würde. Dann wurden die Motoren angeworfen, und wenige Minuten später waren wir in der Luft. Die Dash 8-100 mag alt sein (die LN-WII hat das Baujahr 1994), aber sie ist ein echtes Spaßmobil, vor allem wenn sie in ihrem Element ist. Der Flugzeugtyp wurde nämlich extra für die Verwendung auf kurzen Pisten entwickelt. Also, beim Start Bremsen halten, Vollgas, Bremsen los und ab geht die Post. Nach der Hälfte der Piste sind wir in der Luft und der Flieger steigt wie eine Lerche.
In 11.000ft (gut 3.300m) flogen wir zwischen und zum Teil auch durch die Wolken Richtung Honningsvåg. Wir drei haben ein bisschen gefachsimpelt und erzählt, aber als es dann an den Sinkflug ging, wurden Magnus und Oskar deutlich ruhiger. Die Flugsicherung hatte mitgeteilt, dass die Wolkenuntergrenze in Honningsvåg so ziemlich am Minimum war, das einen Anflug erlaubte. Oskar hat die Maschine bis auf die Minimumhöhe von 1280ft (ca. 380m) gesteuert und dann hieß es Augen auf, ob der Boden in Sicht kommt. Aber die Waschküche war viel zu dicht. Also, Gas geben und den Anflug abbrechen, im Volksmund durchstarten genannt. Das war gestern mein 732. Flug in 48 Jahren, und erst das dritte Mal, dass eine Landung abgebrochen wurde. Wir sind dann eine Runde in der Warteschleife geflogen, während Magnus mit der Zentrale von Widerøe gefunkt hat, damit die schon mal nen Plan B ausarbeiten. Dass der Anflug in  Honningsvåg wetterbedingt nicht klappt, ist wohl nicht so ungewöhnlich, wie die zwei mir erzählten. Aber normalerweise zeichnet sich das vorher ab, und dann müssen die Passagiere für Honningsvåg schon in Hammerfest aussteigen und werden per Bus nach  Honningsvåg gebracht. Das war jetzt natürlich schwierig. Vor unserem Abflug hatte die Crew das Wetter in Honningsvåg überprüft und es war alles okay. Aber das hier ist Norwegen und das Wetter kann sich blitzschnell ändern. Nach Hammerfest zurückfliegen wäre n halbe Stunde Flug in die falsche Richtung gewesen, denn Flug WF978 sollte nach dem Stopp in Honningsvåg noch weiter über Mehamn und Vadsø nach Kirkenes fliegen. (Übrigens die Strecke, die ich für Montag gebucht habe.)
Da sich das Wetter in Honningsvåg während der Warterunde leicht gebessert hatte, hat Oskar einen zweiten Versuch unternommen, aber auch da wurde nichts draus. „Wir machen immer nur zwei Versuche“, erklärte mir Magnus, „dann geht’s zum Ausweichflugplatz.“ Um 23:30h landete Oskar uns also in einem regnerischen Mehamn. Eigentlich wollte ich erst am Montag hier sein, und nur einen kurzen Zwischenstopp ohne Aussteigen machen, aber Mehamn ist schon was ganz besonderes. Es ist der nördlichste Flugplatz der europäischen Festlandes (und der nördlichste, den ich bisher besucht habe).
Da standen wir nun. Der Stationsmanager von Widerøe in Mehamn hat normalerweise keinen schweren Job, aber letzte Nacht kam er echt in Wallung und man hat es ihm auch angemerkt. Nach der Landung habe ich mich in die Kabine gesetzt, und Magnus hat den Passagieren den Stand der Dinge erklärt. Mit mir waren acht Passagiere für Honningsvåg an Bord. Zuerst stand im Raum, dass wir noch eine Etappe weiter mitflögen, bis Vadsø, dort im Hotel übernachten und dann am Morgen mit dem Bus nach Honningsvåg gebracht würden. Fahrzeit: sieben Stunden mindestens. Na toll. Einer der Passagiere fragte dann, was denn mit den Hurtigruten wäre.
Bei uns in Deutschland werden die Hurtigruten eher als eine Art Kreuzfahrtgesellschaft wahrgenommen, aber in Norwegen sind die Schiffe auf der Postlinie zwischen Bergen und Kirkenes ein echtes öffentliches Verkehrsmittel. Jetzt musste der Stationsmanager nochmal telefonieren gehen. Ein paar Minuten später meinte Magnus, der in der offenen Tür unserer Dash 8-100 stand: „There he comes.“ „Does he look happy?“ fragte ich. „He looks stressed“, war die lachende Antwort unseres Captains. Aber die gute Nachricht kam: Um 1:30h sollte ein Postschiff in Mehamn anlegen, auf dem man für uns Plätze nach Honningsvåg reserviert hatte. Kabinen gab’s zwar keine mehr, aber für die vier Stunden Fahrt bis Honningsvåg hätte sich das auch nicht wirklich gelohnt.
Jetzt war ein bisschen Eile geboten, denn der Flieger musste ja weiter und wir zum Hafen. Gepäck ausladen, ein hastiger Abschied von Magnus und Oskar, und dann stand ich mit dem Sammy und der Reisetasche im Ankunftsraum des Flughafens von Mehamn. (Diejenigen, die mein Social Media-Video letzte Nacht gesehen haben, kannten bis hierhin schon die Kurzfassung der Geschichte.)
Taxis gibt es in Mehamn nicht, geschweige denn Busse, und so wurden wir von einem Mitarbeiter des Flughafens im Privat-PKW zum Hafen chauffiert, in insgesamt drei Fuhren. Nieselregen fiel auf den Kai, aber im Warteraum der Hurtigruten – ein paar Sessel, ein paar Zeitschriften, Nut-und-Feder-Bretter an der Wand - hab ich es nicht richtig ausgehalten. Nicht zuletzt, weil ich als einziger überhaupt kein Norwegisch konnte. Ich bin also ein bisschen auf dem Kai auf- und abspaziert und um kurz vor halb zwei kurvte die MS Nordlys der Hurtigruten in den Hafen von Mehamn. Das ist das Bild des Tages, oder besser der Nacht.
Ich hätte nicht gedacht, dass ein Schiff wirklich wie ein Zug, Bus oder Flugzeug anlegen, ent- und beladen, und wieder ablegen könnte, aber das war hier alles hocheffizient organisiert. Ne Viertelstunde. Mehr hat der Spaß nicht gedauert. Dann waren wir unterwegs.
Zum Schlafen war ich viel zu aufgeregt,und außerdem wollte ich die vier Stunden unverhoffter Hurtigruten-Fahrt auch voll auskosten. So ein schlafendes Schiff hat was. Nachts um zwei ist außer der Brücken-Crew und dem einsamen Mädchen an der Rezeption keiner wach. Ich bin ein bisschen über die Außendecks spaziert und habe das Schiff erkundet (und dabei die Decks mit den Kabinen ausgelassen). Auf etlichen Sofas lagen schlafende Passagiere, die ähnlich wie wir nur eine Deckspassage gebucht hatten. Obwohl die Nordlys ein echt schickes Schiff ist, war das eigentlich spannende die Landschaft. Tiefhängende Wolken, gewaltige graue Felswände und grau-grüne Hänge und das alles im Licht der Mitternachtssonne, die sich hinter diesen tiefhängende Wolken verbarg. Eine Kulisse, die Game of Thrones zur Ehre gereicht hätte. Fehlten nur noch ein paar Drachen.
Mit einem Stopp in Kjøllefjord, kamen wir so ziemlich auf die Minute pünktlich gegen viertel vor sechs heute morgen in Honningsvåg an. Die Zeit habe ich mir aber nicht nur mit dem Bewundern des nächtlichen Panoramas vertrieben. Der harte Kern aus insgesamt vier Leuten unserer durch das Schicksal zusammengeworfenen Gruppe hat in der Lounge auf Deck 4 durchgemacht und über Gott und die Welt erzählt. Kaffee hatte Hurtigruten auch spendiert und ab fünf gab es sogar frische Croissants. Wir haben sehr viel Spaß zusammen gehabt, wie das halt oft ist, wenn man ungewöhnliche Situationen teilt. Dabei habe ich nicht mal die Namen der anderen erfahren.
Tja, das Logbuch für die vergangene Nacht ist jetzt doch was länger geworden, und ich habe mit dem heutigen Tag noch gar nicht angefangen. Ich hoffe Ihr habt wirklich bis hierhin durchgehalten. Wenn nicht, ist es auch kein Beinbruch, denn ich schreibe das Logbuch ja auch für mich selber… *lach…
Ach ja, nach dem Ausschiffen konnte ich zu Fuß zum Hotel gehen, das sind vom Hafen hier in Honningsvåg nur ein paar Meter. Frühstück gab es hier schon ab sechs und das habe ich dann auch direkt mitgenommen. Auf Kaffee habe ich aber verzichtet, denn dann habe ich mich mit vollem Bauch ins Bett gehauen und bin sofort eingeschlafen. Kein Problem nach 22 Stunden auf den Beinen.

P.S. Auf der Karte könnt Ihr sowohl die Flughäfen als auch die Postschiffstrecke sehen.


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